„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren“. Das hat Gotthold Ephraim Lessing gesagt, nachdem sein neugeborener Sohn und wenige Wochen später seine Frau am Kindbettfieber gestorben waren.
In der Routine des Alltags denken wir kaum an Pannen. Irgendwie hat alles zu funktionieren. Dann sind wir umso erschrockener, wenn plötzlich der Zug nicht mehr fährt, weil die Lokführer streiken. Oder der Strom fällt aus, und es bleibt dunkel. Der Heizkörper bleibt kalt, Radio Hamburg sendet nicht, und der Fernseher reagiert nicht. Oder wir stolpern über den Teppichrand, stürzen unglücklich und müssen mit einem gebrochenen Oberschenkel ins Krankenhaus. Wir landen unsanft im Rollstuhl. Aber schlimmer geht immer: Corona setzt dem Ganzen die Krone auf! Jeder von uns kann inzwischen ein Lied über die eine oder andere Tragödie singen. Tragödien, die uns den Verstand verlieren lassen.
Wir fragen uns: Wer tröstet uns in diesen Ungewissheiten und Grenzerfahrungen des Lebens? Was lässt uns in schweren Zeiten hoffen?
Ich bin auf ein Gedicht bzw. Gebet gestoßen, das die Jüdin Edith Stein über sich selbst und ihren Namen verfasst hat. Ihr Leben war regelrecht zerbrochen und zerschlagen. Es schienen nur Scherben übriggeblieben zu sein. 1942 wurde sie im KZ hingerichtet. Wie Edith Stein trotzdem nicht den Verstand verlor. Wie sie die Bruchstücke ihres Lebens in ein großes Mosaik des Lebens eingebunden sah, das formuliert sie in den folgenden Zeilen:
„Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen leg’ ich meinen Tag in Deine Hand.
Sei mein Heute, sei mein gläubig Morgen, sei mein Gestern, das ich überwand.
Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen, bin aus Deinem Mosaik ein Stein.
Wirst mich an die rechte Stelle legen, Deinen Händen bette ich mich ein.“¹
Selbst ein derartiger Blick aufs Leben wie bei Edith Stein erspart einem nach den Tiefschlägen nicht die Trauer. Trauer über das, was nicht gelebt werden kann. Was zerbrochen ist. Über einen geliebten Menschen, der nicht mehr an unserer Seite ist. Der fehlt.
Diese Trauer äußert sich auf vielerlei Art und Weise: Sie kann sich in Aggression, Wut, Ängsten, Verbitterung und in den Tränen ausdrücken.
„Tränen sind Tropfen, in denen eine Geschichte steckt.“, schreibt die Autorin Lena Gorelik. Tränen, die wegwaschen, was unsere Seele belastet. Den Schmerz darüber lindern, dass wir etwas verloren habe, was uns wichtig war. Die uns trotzen lassen. Ein „trotzdem Ja zum Leben“ finden lassen.
Dieses „Trotzdem“ ist ein Weg, auf dem wir das Unabänderliche lernen zu akzeptieren. Dieser Weg verlangt uns einiges ab. Weil er ziemlich steil und enorm anstrengend ist.
Elisabeth Kübler-Ross wurde bei einem ihrer unzähligen Hausbesuche bei sterbenden Menschen von einer Frau eine Frage gestellt. Die Kranke konnte nach einem Schlaganfall, der sie vollständig lähmte, nur mehr unter äußerster Anstrengung Wortstücke artikulieren, ihre junge Tochter musste die Frage übermitteln. Ein Baby lag noch bei ihr im Bett. Die Frage der Mutter lautete: „Was hat mein Leben noch für einen Sinn, wenn ich doch gar nichts mehr für meine Kinder tun kann, nichts arbeiten, nichts mehr leisten kann?“ Elisabeth Kübler-Ross sah der Frau mit zärtlichem Blick in die Augen und antwortet mit der Gegenfrage: „Ja, sie zu umsorgen, zu kochen, das Haus sauber zu halten, das ist das eine – doch ist es nicht noch mehr, die Kinder zu lehren, das Leben anzunehmen?“²
Das Unabänderliche akzeptieren? Wenn das in solchen extremen Talsohlen des Lebens so einfach wäre…!
„Warum weinst du?“. Das waren die ersten Worte, die Jesus nach seiner Auferstehung gesprochen hat. Er richtete sie an Maria, die am Boden zerstört war. Die Ereignisse der letzten Tage überforderten sie. Es war schon schlimm genug, als sie miterleben musste, wie ihr geliebter Rabbi elend am Kreuz verendete. Mit ihm starb ihre Hoffnung. Ihre Lebensfreude. Als Maria dann am dritten Tag auf dem Friedhof feststellen musste, dass sein Leichnam verschwunden war, brach sie unter Tränen zusammen. „Warum weinst du?“ Maria meint zunächst, dass der Friedhofsgärtner sie anspricht. Aber als sie ihren Namen hört – „Maria!“ – da erkennt sie den Auferstandenen und neue Hoffnung keimt auf!
Am Anfang habe ich die Frage gestellt: Was tröstet uns? Vor allem, wenn jemand uns beisteht, der selbst was durchgemacht hat und signalisiert, dass er mich versteht. In der Bibel lernen wir einen Gott kennen, der selbst im Leid den Verstand verloren hat. Dessen Leben jäh abgebrochen wurde. Der den Schmerz der Trauer und des „Warum“ durchlitten hat. Von diesem Gott heißt es: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Noch werden viele Tränen geweint. Weinen gehört zu diesem Leben dazu. In allen Grenzerfahrungen und Tragödien des Lebens. Und trotzdem können wir ganz bei Trost sein. Weil es Menschen gibt, die es bei uns aushalten. Weil es einen Gott gibt, der sich als Tröster vorstellt, der uns „wie eine Mutter tröstet“.
Seien Sie gesegnet!
Ihr Seelsorger
Wolfgang Klimm
¹ Der andere Advent 2008; Verlag Andere Zeiten, Hamburg.
² Glettler,H./Lehofer,M.: Trost. Wege aus der Verlorenheit. S.48
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