Auf einen Espresso mit dem Seelsorger – Oktober

Auf’n Espresso mit dem Seelsorger – Oktober 2021

Vorbilder sind meistens gefährlich. Weil sie uns das Gefühl geben, klein zu sein. Wir können den Idolen nicht das Wasser reichen. Und bestenfalls wird das große Vorbild oder etwas von ihr bzw. ihm kopiert. Das Original ist unerreichbar.

Aber es gibt Menschen, die mich ermutigen. Die mich daran erinnern, was im Leben wirklich zählt und worauf es ankommt. Die mich trotz aller unangenehmen Schwierigkeiten zuversichtlich stimmen. Die ein Beispiel dafür sind, was für eine geniale Idee wir Menschen sind – trotz aller Einschränkungen und Unwägbarkeiten. Dass es sich lohnt, immer wieder aufzustehen. Dran zu bleiben.

Darf ich Ihnen zwei vorbildliche Menschen vorstellen?

 Gina Böttcher ist zwölf Jahre alt, als sie im Wasser verschwindet. Sie sieht damals ihre beiden Brüder im Schwimmbecken planschen, sie möchte zu ihnen, zu Theo und Emil, immer tiefer hüpft sie hinein. Das Wasser reicht ihr bald bis zum Hals, bis zum Kinn, es umspült die Nase, dann ist ihr ganzer Kopf untergetaucht.

„Nie wirst du schwimmen können.“ Mit diesem Satz wächst Gina auf. Ärzte und Therapeutinnen sagen ihn, Kindergärtnerinnen und Lehrer. Ihre Eltern denken das auch. Wenn die anderen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse ins Hallenbad gehen, lassen die Lehrer sie mit einem Ball spielen.

Gina ist mit fehlgebildeten, verkürzten Armen und Beinen zur Welt gekommen. Wo üblicherweise die Ellenbogen beginnen, sind bei Gina die Finger, vier an jedem Arm. Ihre Beine enden an den Knien, ihre Füße sind nicht nach vorne gerichtet, sondern nach hinten. Treppen steigt Gina rückwärts hinunter.

Niemand hört sie, als sie damals, mit zwölf, panisch unter Wasser schreit. Sie muss es selbst schaffen. Sie strampelt, bis sie wieder Boden unter ihren Füßen spürt. Sie hat überlebt. Sie entwickelt panische Angst vor Wasser. Es wird ihr Feind.

Aber sie entdeckt nach und nach das Wasser als ihr Element: Im Wasser ist sie plötzlich nicht mehr die Behinderte, für die der Bus extra anhalten und eine Auffahrrampe ausfahren muss, sie muss nicht fürchten, dass Leute ihr aus Mitleid Geld schenken. Im Wasser ist sie besser als viele andere Menschen, als viele „Normale“.

Aus dem Mädchen, das fast ertrunken wäre, ist eine der schnellsten Schwimmerinnen der Welt in ihrer Startklasse geworden.

Bei den diesjährigen Paralympics gehört Gina Böttcher zu den elf Schwimmerinnen und Schwimmern des Deutschen Behindertensportverbands.

Chris Nikic lebt mit seinen Eltern in Orlando, Florida. Mit fünf Monaten wurde er am offenen Herzen operiert. Erst mit vier Jahren konnte er ohne Hilfe gehen. Erst mit 15 Jahren lernt Chris das Radfahren. Mit 17 Jahren brauchte er vier Ohr-Operationen. Die Ärzte sagten, dass er nicht das Schwimmen vergessen könne. Seine Eltern berichten: „Viele Jahre haben Expertenmeinungen mich und meine Frau darin beschränkt, wozu wir Chris in der Lage sahen. Vor zwei Jahren haben wir aufgehört, auf andere zu hören – seitdem hören wir auf Chris. Wir fragen ihn, was seine Träume sind, was er machen kann und machen will.“ Chris hat kürzlich Sport-Geschichte geschrieben: Er ist der erste Mensch mit Down-Syndrom, der einen Ironman geschafft hat. Am 7. November absolvierte er die 3,86 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen in Panama City Beach, Florida. 

 Auf dem Bild steht Chris vor seiner großen Schreibwand in seinem Zimmer. Dort schreibt er jeden Tag seine Ziele und Träume und was er gemacht hat. Er hat eine Bewegung ins Leben gerufen. Die „1% Challenge“. Damit sollen Menschen ermutigt werden, täglich 1% dauerhaft gute Gewohnheiten anzueignen.

Gina Böttcher und Chris Nikic haben mich in den letzten Wochen, als ich ihre Berichte gelesen habe, enorm beeindruckt und ermutigt. Und mich wieder an den Buchtitel der Biographie von Viktor Frankl erinnert: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“!

Herzliche Grüße 

Wolfgang Klimm

Pastor Wolfgang Klimm

Unser Seelsorger steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern, den Angehörigen und Mitarbeitenden unabhängig von ihrer Konfession oder ihrer weltanschaulichen Prägung als Begleiter und Gesprächspartner zur Verfügung.

Nehmen Sie gerne Kontakt auf,
wenn Sie z. B.

  • Lebens- oder Glaubenshilfe suchen,
  • über ihre Sorgen oder Ängste sprechen möchten,
  • ein Fürbitte- oder Segensgebet wünschen.

Sie sind herzlich zu den regelmäßig stattfindenden Andachten eingeladen.

Kontakt und Terminvereinbarung
mit Pastor Wolfgang Klimm
Telefon: 040 55425-371
E‑Mail: klimm(@)elim-diakonie.de

Quellen: 

1 https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/gesellschaft/paralympics-2021-in-tokio-der-kampf-um-sekunden-
e953362/
2 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/chris-nikic-interview-ironman-89532