Bei der aktuellen Nachrichtenlage kann einem schon einmal ganz schummrig werden, oder? Alleine die Corona Pandemie hätte uns allen gereicht, im Blick auf unsere Kraftreserven und Überlebenskünste. Was inzwischen noch alles an bedrohlichen Szenarien dazu gekommen ist, fliegt uns tagtäglich in den Nachrichten um die Ohren. Als hätte irgendjemand die Büchse der Pandora geöffnet oder die apokalyptischen Reiter losgelassen.
Wie sollen wir uns einen Reim auf den Lauf der Dinge machen und die unterschiedlichen Entwicklungen verstehen? Manche veröffentlichen dazu offene Briefe, wie z.B. Susanne Niemeyer, die sich mit ihren Zeilen an Gott höchstpersönlich wendet: „Wenn es dich gibt, warum greifst du nicht ein? Nein – halt, warte, das soll gar keine Frage sein, weil jetzt nicht die Zeit für philosophische Gedankenspiele ist. Wenn es dich gibt, dann tu was. Fall Herrn Putin in den Arm und seinen Mitstreitern auch. Du kannst einwenden, dass meine Bitte spät kommt, Kriege gibt es auf der Welt, solange ich lebe. Du hast Recht. Aber ich bin – im Gegensatz zu dir – ein Mensch. Je näher das Unfassbare kommt, desto fassungsloser macht es mich. Ich habe kluge Bücher gelesen und mir Antworten zurechtgelegt, warum du das tust: Nichts tun. Dass du nicht kannst, ist so ein verstörender Gedanke. Wenn nicht mal du – wie dann wir? Ich wage nicht, um Trost zu bitten, weil andere den viel dringender brauchen. Jede Bitte kommt mir falsch vor, weil hinter allen Bitten die eigentliche steht: Mach dem Töten ein Ende…“¹
Was mich selbst in der aktuellen weltweiten Krisensituation ermutigt und nachdenklich gemacht hat, war die inspirierende Lektüre über das abenteuerliche Leben von vier außergewöhnlichen Frauen: In einer finsteren Zeit, als die Welt zwischen den Jahren 1933 und 1945 im Chaos versank, resignierten sie nicht. Obwohl auch ihr eigenes Leben aus der Bahn geworfen wurde, setzten sie sich mit ihrem Denken und Leben für die Freiheit ein. Der langjährige Chefredakteur des „Philosophie Magazins“ Wolfram Eilenberger schildert in seinem Buch „Feuer der Freiheit“ auf fesselnde Art und Weise die dramatischen Lebenswege der einflussreichen Philosophinnen.²
Ich greife daraus einmal exemplarisch die relativ unbekannte französische Vordenkerin Simone Weil heraus: Simone Weil stammte aus einem gebildeten, jüdischen, jedoch unorthodoxen Elternhaus. Nach Mathematik- und Philosophiestudium wurde sie Lehrerin. Im Alter von 24 Jahren wurde sie in ein Provinznest in der Nähe von Lyon versetzt. Man hoffte die Unruhestifterin dadurch ruhig zu stellen. Aber nicht nur ihr philosophisches Denken, sondern auch ihre gesamte Lebensführung waren von einem sozialen Engagement durchdrungen gewesen, für das Simone Weil an ihre Grenzen ging. So fuhr sie bei jeder Gelegenheit mit dem Zug in die Arbeitersiedlungen von Saint-Étienne. Dort hielt sie den Minenkumpels Vorlesungen und gab Abendkurse. Mit nur ein paar Notizen in der Hand klärte sie die Genossen über Geometrie, französische Literatur und den wissenschaftlichen Sozialismus auf.
Außerdem lebte sie eine beeindruckende Solidarität mit diesen Fabrikarbeitern: Sobald sie ihr Lehrergehalt bekam, behielt sie nur so viel, wie einem arbeitslosen Fabrikarbeiter zustand. Den Rest verschenkte sie an Kameraden in Not. Außerdem schuftete sie über ein Jahr lang als ungelernte Arbeiterin in den Fabriken, um die Welt der Arbeiter zu aus eigenem Erleben zu verstehen.
Die erschreckenden Auswirkungen des Totalitarismus, der Millionen Unschuldigen das Leben kostete, brachte Simone Weil jedoch an die Grenze ihrer Kraft. Denn sie identifizierte sich mit Leib und Seele mit den Leidenden.
1936 ging sie nach Spanien, um sich dem Kampf sozialistischer Truppen gegen die Putschisten unter General Franco anzuschließen. Sie kämpfte nicht selbst an der Front, erlebte jedoch aus nächster Nähe, wie die Erfahrung von Gewalt und Tod die Menschen veränderte. In ihrer philosophischen Meditation über diese erlebte kriegerische Gewalt stellte sie dazu grundlegende Fragen: Was ist das Wesen des Krieges? Was macht er mit den Opfern, was mit den Tätern?
In ihrem Poem der Gewalt lieferte sie damit im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs eine der tiefgründigsten philosophischen Analysen des Krieges und zugleich eine düstere Vision dessen, was der Menschheit unmittelbar bevorstand: Dass Gewalt immer eine Eigendynamik entwickelt und stets Sieger und Besiegte gleichermaßen verschlingt. Zugleich lässt Gewalt die Menschen erstarren, ja regelrecht versteinern. Somit ist der moderne Krieg gewissermaßen eine Form von Sklaverei, denn er ist in Weils Worten „ein Tod, der das ganze Leben durchzieht.“
Trotzdem hat Simone Weil ihren Glauben an die Menschlichkeit nicht verloren: „Sie ist eine Denkerin der radikalen Hoffnung im Angesicht einer vollkommenen Zerstörung, die sie selbst miterlebt hat, und die in diesen dunkelsten Momenten immer das Gefühl hatte, dass gerade in dieser Dunkelheit das Rettende, das Licht, das Heilende wachsen kann.“
Damit wird sie für unsere aktuellen turbulenten und teilweise finsteren Zeiten eine Ermutigung, dass wir uns nicht der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung hingeben müssen, sondern einander ermutigen und Zeichen der Menschlichkeit in unserem Umfeld setzen.
Ich wünsche uns in diesen Tagen ganz viel Weisheit, damit wir uns ein bisschen von der rauen Wirklichkeit distanzieren können. Aber nicht um sie zu verlassen. Sondern um die Zusammenhänge klarer zu sehen. Dass wir durch unseren Stadt gehen, und staunend das Selbstverständliche wahrnehmen: wie unfassbar viele Unterschiedlichkeiten sich regeln, ausgleichen, vermitteln lassen. Wie wenig wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Wieviel Liebe, Hoffnung und Zuneigung es gibt.
Jane Goodall, die Schimpansen-Forscherin, sagte neulich: „Ich habe vier Gründe, an die Zukunft zu glauben. Den erstaunlichen menschlichen Intellekt. Die Widerstandskraft der Natur. Die Kraft junger Menschen. Und den unbezähmbaren human spirit.”³
Herzliche Grüße!
Wolfgang Klimm
¹ „Offener Brief an Gott“ (www.freudenwort.de)
² Eilenberger, W.: Feuer der Freiheit (Stuttgart, 2020)
³ 95 – Zukunfts-Weisheit (www.horx.com)
Unser Seelsorger steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern, den Angehörigen und Mitarbeitenden unabhängig von ihrer Konfession oder ihrer weltanschaulichen Prägung als Begleiter und Gesprächspartner zur Verfügung.
Nehmen Sie gerne Kontakt auf,
wenn Sie z. B.
Sie sind herzlich zu den regelmäßig stattfindenden Andachten eingeladen.
Kontakt und Terminvereinbarung
mit Pastor Wolfgang Klimm
Telefon: 040 55425-371
E-Mail: klimm@elim-diakonie.de