In dieser Woche stieß ich auf das Buch von Hans A. Wüthrich mit dem
bemerkenswerten Titel „Manifest der intellektuellen Bescheidenheit“. Er knüpft darin
an das an, was ich im letzten „Espresso“ zum Thema Weisheit angesprochen habe:
Es geht um so manchen „Knick in der Optik“ bzw. allerlei Denkfehler, denen wir auf
den Leim gehen. Verhängnisvoll wird die Geschichte, wenn diese Denkfehler Schule
machen und nicht mehr ohne empörte Aufregung hinterfragt werden dürfen.
Wüthrich dazu: „Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell bringt es
auf den Punkt: Es ist ein Jammer, dass die Dummköpfe so selbstsicher sind und die
Klugen so voller Zweifel.“ (siehe den erwähnten „Dunning-Kruger Effekt im Februar
Espresso 2023)
„Wir leben im Zeitalter der sich selbst überschätzenden Welterklärenden. Im
beruflichen Umfeld, in der Gesellschaft und Politik, in den Medien, aber auch im
Privaten begegnen wir tagtäglich Schein-Autoritäten, die uns die Welt deuten. Für
beinahe alle Probleme kennen sie die Lösung und sie belehren uns, meist im
Brustton der Überzeugung, weshalb Dinge nicht funktionieren und wie eine bessere
Welt auszusehen hat. Sie kennen die Antworten, bevor die Fragen gestellt sind. Für
sie ist es unverständlich und nur schwer zu ertragen, dass andere die Genialität ihrer
Deutungen und Lösungen nicht sehen können und wollen. Sie bewerten die eigene
Wahrheit als alternativlos und halten es für ihre Pflicht, den andern den rechten Weg
zu weisen.
Es ist offensichtlich, dass trotz der lauten Töne der nach Anerkennung und
Bedeutsamkeit strebenden Besserwisser, Alleskönner, Entweder-oder-Menschen,
Überzuversichtlichen und Oberlehrer in unserer Gesellschaft die Anzahl der
ungelösten Probleme nicht ab-, sondern eher zunimmt.“ 1
Seine Empfehlung lautet:
„Wenn wir die Qualität der Problemlösungen verbessern wollen, müssen wir unsere
Haltung und unsere Gesinnung ändern! Wir müssen Problemlösung neu denken.
Was wir benötigen ist eine neuartige Qualität von Demut, ich bezeichne sie als
intellektuelle Bescheidenheit. Sie konkretisiert sich in Form von fünf zentralen
Haltungsprinzipien, die sich zirkulär beeinflussen und bedingen:
• Realität als Eigenkonstrukt begreifen und Pluralität wertschätzen
• Let’s agree to disagree – das Abweichende als Bereicherung nutzen
• Nicht Recht haben müssen und gemeinsam klüger werden
• Dialog statt Monolog – miteinander (weiter-)denken
• Unwissen eingestehen und produktiv zweifeln
• Unbekanntes bejahen – trügerisches Wissen entlarven
• Sich experimentell annähern und handelnd ins Verstehen kommen
• Fragezeichen tiefer setzen – sich emporirren
• Mainstream misstrauen und Kontraintuitives erproben
• Komfortzone verlassen – Undenkbares denken“
Was sagen Sie zu dieser „neuartigen Qualität von Demut“?
„Demut“! Was für ein Wort! Auf Lateinisch „humilitas“. Abgeleitet vom „Humus“, dem
Erdboden, aus dem der Mensch nach biblischer Lesart erschaffen wurde. Haben wir
Menschen die „Bodenhaftung“ verloren? Und damit auch den „Humor“, weil wir nicht
mehr über uns selbst lachen können?
Um zu einer derartigen demütigen Haltung der intellektuellen Bescheidenheit zu
gelangen, bedarf es meiner Ansicht nach einiger Übungseinheiten. Und vor allem
einer Fähigkeit, die Hartmut Rosa das „hörende Herz“ nennt. 2 Er meint damit „die
Fähigkeit, sich von Herzen für das zu öffnen, was uns begegnet, sich Zeit zu nehmen
und auch auf den Prüfstand zu stellen, was als das vermeintlich Richtige gilt.“ 3
Und denken Sie bitte daran: Denkfehler sind schwieriger zu überwinden, wenn wir
glauben, dass wir dagegen immun sind und dass sie nur den anderen bzw. den
dummen Menschen unterlaufen…
Ich wiederhole mich an dieser Stelle zum Abschluss gerne: „Der Narr meint, er sei
weise, doch der weise Mann weiß, dass er ein Narr ist.“ 4 „Der Kluge lässt sich
belehren, der Unkluge weiß alles besser.“ 5
Auch Sokrates brachte es auf den Punkt: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“ Damit
behauptet er nicht, dass er nichts wisse. Sondern hinterfragt das, was man zu wissen
meint…
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Sommerzeit, mit offenen Sinnen, einem
hörenden Herzen und intellektueller Bescheidenheit.
Herzliche Grüße
Wolfgang Klimm
¹ www.beste-wirtschaftsbuecher.com/die-99-besten-wirtschaftsbuecher/buchauszug-manifest-der-intellektuellen-bescheidenheit-hans-wuethrich/
² In seinem Buch „Demokratie braucht Religion“ (www.ethik-heute.org)
³ www.changex.de/Article/essay_ina_schmidt_raum_fur_dissonanz
⁴ William Shakespeare (www.glanzundelend.de)
5 Franz Carl Endres (www.alltagsforschung.de)
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