Auf einen Espresso mit dem Seelsorger – Juli

Auf’n Espresso mit dem Seelsorger – Juli 2022

„Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark!“ So fordert uns Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts der aktuellen schwierigen Herausforderungen in unserer Gesellschaft auf. Dass wir als Gesellschaft in Krisen solidarisch handeln, das haben wir in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt (z.B. Flut an der Elbe 2002; Ahrtal Hochwasser 2021)

Gleichzeitig wurde mir bei der Beschäftigung mit aktuell relevanten ethischen Fragestellungen bewusst, wie tief so manche Gräben in unserer Gesellschaft inzwischen sind. Am schmerzhaftesten empfinde ich diese Gräben innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Vor allem wenn unter christlichem Vorzeichen leidenschaftlich daran gearbeitet wird, die Gräben zwischen den Menschen zu vertiefen. Dabei lautet die entscheidende Frage: Wie können wir Brücken bauen?

Ich erinnerte mich bei diesen Gedanken an eine Rede von Navid Kermani vor dem Deutschen Bundestag aus dem Jahre 2015. Er hielt sie anlässlich seiner Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Darin erzählt er die Geschichte von Pater Jacques Mourad in Syrien: Er betreute die katholische Gemeinde von Qaryatein und gehörte zugleich dem Orden von Mar Musa an, der sich Anfang der achtziger Jahre in einem verfallenen frühchristlichen Kloster gegründet hat. Das ist eine besondere, eine wohl einzigartige christliche Gemeinschaft, denn sie hat sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben.

Mit ihrer Hände Arbeit, ihrer Herzen Güte und ihrer Seelen Gebete schufen die Nonnen und Mönche von Mar Musa einen Ort, der für sie selbst nichts Geringeres als die endzeitliche Versöhnung vorausfühlte: ein Steinkloster aus dem siebten Jahrhundert mitten in der überwältigenden Einsamkeit des syrischen Wüstengebirges, das von Christen aus aller Welt besucht wurde, an dem jedoch zahlreicher noch Tag für Tag Dutzende, Hunderte arabische Muslime anklopften, um ihren christlichen Geschwistern zu begegnen, um mit ihnen zu reden, zu singen, zu schweigen und auch, um in einer bilderlosen Ecke der Kirche nach ihrem eigenen, islamischen Ritus zu beten. Viele hundert, wenn nicht Tausende von Flüchtlingen hat die Gemeinschaft von Mar Musa bis zuletzt in ihrem Kloster beherbergt und versorgt, die allermeisten von ihnen Muslime.

Wenige Tage vor seiner Entführung im Mai 2015 schreibt der Pater an eine französische Freundin angesichts der Bedrohung durch den „Islamischen Staat“: „Es ist schwierig zu entscheiden, was wir tun sollen. Sollen wir unsere Häuser verlassen? Das fällt uns schwer. Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich – verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten ihnen nichts.“

Am Tag nach seiner Entführung strömten die Muslime von Qaryatein ungefragt in die Kirche und beteten für ihren Pater Jacques. Ein eindrückliches Beispiel, dass die Liebe über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus wirkt.

Inzwischen haben Bewohner des Städtchens Qaryatein Pater Mourad zur Flucht aus seiner Zelle verholfen. Sie haben ihn verkleidet und mit Hilfe von Beduinen aus dem Gebiet des „Islamischen Staates“ geschafft. Offenbar waren zahlreiche Menschen an der Befreiung beteiligt, sie alle Muslime, und jeder einzelne von ihnen hat sein Leben für einen christlichen Priester riskiert.¹ 

Was für ein bewegendes Zeugnis von engagierter Versöhnungsarbeit. Und eine eindrückliche Veranschaulichung, wozu eine glaubwürdige christliche Identität befähigt: Anstatt dauernd sich selbst bezeugen zu müssen und die eigenen Muskeln und Stärken zu zeigen, weiß sich dieser Glaube in Gott aufgebhoben, der alles in allem ist. Das genügt. Im Bewusstsein der eigenen Tradition, der Gewissheit des eigenen Glaubens und Eigentümlichkeiten wird man dialogfähig. Kann Brücken bauen. Anstatt für sich die ganze Wahrheit zu beanspruchen. „Wir können in Gelassenheit Fragment sein, denn unsere Ganzheit liegt im Blick Gottes, nicht in uns selbst. Wir sind Fragment, als einzelne und als Kirche. An unserem Wesen muss die Welt nicht genesen…Das heißt, dass ich die Korrektur und die Ergänzung durch die fremde Wahrheit brauche, wie die anderen die Korrektur durch meine Wahrheit brauchen.“²

Noch einmal Kermani: „Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen – zu einer anderen Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion – kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig, die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets fragende sein.“

Das ist mein Wunsch für unsere Gesellschaft und insbesondere für unsere ELIM Diakonie: Dass wir ein Übungsraum für das Miteinander verschiedener Religionen und Kulturen sind. Eine Art Lernfeld für die gesamtgesellschaftliche Frage: Wie können wir gut zusammenleben und zusammenarbeiten, dass es unser Miteinander nicht stört, dass wir sehr verschieden sind. Verschiedenes essen, anziehen, hören, feiern, lesen und beten. Oder wie Herr Scholz es ausgedrückt hat: „Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark!“

Herzliche Grüße!

Wolfgang Klimm

¹ Navid Kermani – Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de)
² F. Steffensky: „Die Wurzeln der Toleranz“ in: Schöne Aussichten (Stuttgart, 2006) S. 176 – 180 

Pastor Wolfgang Klimm

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