In dieser Sommerausgabe des Espresso gebe ich Ihnen zwei Lektüreempfehlungen, die für ein paar Sonnenstrahlen oder eine erfrischende Brise sorgen. Zumindest war das beim Lesen dieser beiden Bücher meine Erfahrung: Eine echte Ermutigung und Erfrischung in der aktuellen gedämpften Stimmung angesichts der politischen Großwetterlage.
Das erste Buch stammt aus der Feder des Arztes und Neurowissenschaftlers Prof. Dr. Volker Busch mit dem Titel „Kopf hoch – mental gesund und stark in herausfordernden Zeiten“¹. Darin vergleicht er die Belastung unserer Psyche durch die ständige Flut an negativen Schlagzeilen oder allerhand anderer Probleme mit der Wirkweise unseres Immunsystems bei einer Erkältung: Je stärker und stabiler unser körperliches Immunsystem, desto seltener haut uns so ein Virus um. Genauso verhält es sich mit unserer Psyche – die Welt hustet und prustet uns ständig Stresspartikel ins Gesicht. Ob wir davon krank werden, hängt davon ab, wie robust wir mental drauf sind und wie effektiv wir unsere Psyche verteidigen. Wir brauchen quasi einen mentalen Bodyguard der die verschiedenen Ängste reduziert, negative Gedanken befriedet und neue Perspektiven sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. In fünf Kapiteln entfaltet der Autor Maßnahmen, wie wir unser mentales Immunsystem stärken können:
In einer Rezension der SZ heißt es kurz und knackig: „Für jeden verständlich, humorvoll und mit vielen Erkenntnissen aus der Wissenschaft gestützt.“
Meine zweite Leseempfehlung ist ein echter Mutmacher angesichts der gesellschaftlichen Gräben, die sich überall auftun und anscheinend unüberwindlich sind. In Amerika ist schon von einem beginnenden Bürgerkrieg die Rede. Die Wahlen in Europa haben die politische Landschaft enorm erschüttert. Was von Seiten der Verantwortungsträger dazu formuliert wird mach den Eindruck von Feuerwehrleuten, die mit Wassereimern einen verheerenden Waldbrand bekämpfen.
Der Autor Bastian Berbner ist Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er ist mehr oder weniger zufällig Menschen und Geschichten begegnet, wo Andersdenkende sich wirklich kennenlernten und in einigen Fällen aus Feinden Freunde wurden. Eine 180-Grad-Wende gelingt. Und er entdeckt dabei einen Mechanismus, der Hass schwächt und Feindschaft beendet. Ein Mechanismus, der seit über siebzig Jahren wissenschaftlich erforscht ist. Leider hat dieses Wissen noch nicht den Weg aus der akademischen in die reale Welt geschafft. In seinem Buch schaut er hin an die Orte, wo dieser Mechanismus seine Wirkung entfalten konnte, mehr oder weniger zufällig oder gezielt eingesetzt.
Berbner nimmt uns mit auf eine Reise in ein irisches Dorf, eine dänische Polizeistation, botswanische Schulen oder eine Hamburger Reihenhaussiedlung. Was diese Reise bei uns bewirken wird, verspricht er in seinem Vorwort: „Wer wie ich, gerade manchmal überwältigt ist vom Hass, der aus dem Fernseher, der Zeitung, dem Twitter-Feed schlägt, wird auf den folgenden Seiten Hoffnung finden, ein bisschen wenigstens. Und wer wie ich, genervt ist von den unzulänglichen Politiker-Lösungs-Floskeln, den erwartet hier das Gegenteil: ganz konkrete erste, zweite, dritte Schritte, die andere bereits gegangen sind und die funktioniert haben.“² ³
Hier ein kleines Beispiel aus dem Buch unter der Überschrift: Wenn der Zufall bzw. das Los die Demokratie stabilisiert: „2012 wagt die irische Regierung ein Experiment. Wie auch in anderen Ländern Europas macht sich Demokratiemüdigkeit breit, Aversionen gegen Politiker und Eliten. Und statt die Kritiker zu ignorieren, beruft die irische Regierung ein beratendes Gremium ein, das über ein Jahr hin grundlegende Fragen der Politik diskutieren und Empfehlungen für das Parlament abgeben soll. Z.B. über Änderungen des Wahlrechts, die Abschaffung des Senats oder: die Legalisierung der Homo-Ehe, im katholischen Irland eine der umstrittensten Fragen überhaupt.
Das Besondere an diesem Experiment: Dieses Beratungsgremium ist kein Expertengremium. Es ist eine repräsentativ ausgewählte und doch zufällige Vertretung der irischen Bevölkerung. Der irische Briefträger Finnbar O‘Brien ist einer von ihnen. Er hat große Aversionen gegen Homosexuelle. Der Grund: als Kind wurde er von einem Freund seiner Eltern regelmäßig missbraucht. Diese Pädophilie, der Missbrauch von Kindern, war für ihn dasselbe wie Homosexualität. Er hat nie unterschieden.
Als er zum ersten Treffen des Beratungsgremiums in Dublin kam, saß an seinem Tisch ein junger Mann, der gepierct war, und deutlich homosexuell stilisiert. Er war der erste, dem Finnbar dort begegnete. Chris, so hieß der Mann, war damals drauf und dran, nach Kanada auszuwandern, um volle Rechte als Homosexueller zu bekommen, die er sich in Irland nicht mehr erhoffte. Er wollte heiraten, Kinder adoptieren, eine Familie gründen können. Diese beiden waren die ersten, die sich in Dublin begegneten. Finnbar geriet in Panik.
Dann kam die Vorstellungsrunde am Tisch. Finnbar wusste überhaupt nicht, was ihn qualifizieren sollte, in so einem Gremium mitzuentscheiden. Er war ein einfacher Briefträger ohne höhere Bildung und politische Erfahrung. Doch als die Vorstellungsrunde begann, sagte der junge Homosexuelle, dass er nicht wisse, ob er hierher gehöre, und dass er sich extrem unwohl fühle. Und bei diesen Worten fühlte Finnbar plötzlich eine große Nähe zu dem jungen Mann: der sprach genau aus, was auch er fühlte.
Später verbringen die beiden die Teepause zusammen, sie trinken ein Bier an der Bar und teilen die freie Zeit während der Aufenthalte in Dublin. Finnbar erzählt Chris von seinen Missbrauchserfahrungen und Chris Finnbar von seinen Demütigungen wegen seiner Sexualität. Finnbar begreift, dass Homosexualität nichts mit Pädophilie zu tun hat, aber wie jede Beziehung mit der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Und als am Ende die Versammlung abstimmt, ob sie dem Parlament die Legalisierung Homo-Ehe empfiehlt, ist es Finnbar, der die Rede hält, die dem „Ja“ mit zum Durchbruch verhilft.
Die beiden haben diese Begegnung nicht gesucht, sie hätten unter normalen Bedingungen nie miteinander gesprochen, geschweige denn, sich von ihren Erfahrungen erzählt, die sie fast zerstört hätten. Es war der Zufall des Zusammentreffens, der eine 180-Grad-Wende möglich gemacht hatte.⁴
In diesem Sinne wünsche ich ein inspirierendes und immunstärkendes Lesevergnügen!
Herzliche Grüße
Wolfgang Klimm
¹ Busch, V.: „Kopf hoch!“ (München, 2024).
² Berbner, B.: „Geschichten gegen den Hass“ (München, 2019).
³ Podcast von Bastian Berbner: „180 Grad: Geschichten gegen den Hass“ (NDR/hundert-achtzig.de, 2019). Alle sieben Podcast-Folgen nachhören können Sie hier
⁴ „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”, Leonard Cohen (Evangelischen Stadtakademie München, 2019)
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