In den Andachten der letzten Wochen beschäftigte ich mich wieder einmal mit der Frage:
Wie können wir in krisenhaften Zeiten Hoffnung schöpfen? Wer oder was kann uns trösten?
Zusammen mit den Teilnehmenden sammelten wir verschiedene Trost-Schätze aus den
unterschiedlichsten Lebenserfahrungen: der Bogen spannte sich vom Teddybär, über die
liebevollen Arme der Mutter, den Spaziergang in der Natur, bewegende Musik, die
schnurrende Katze, inspirierende Texte bis hin zu einer Tafel Schokolade.
In Verbindung mit der Hoffnung und einer gewissen „Trotzhaltung“ in Krisen richteten wir die
Aufmerksamkeit insbesondere auf Vorbilder, die in schweren Zeiten nicht aufgegeben
haben.
Ob das der Liederdichter Paul Gerhard war, der unter den Eindrücken des 30-jährigen
Krieges seiner Frau ein Lied geschrieben hat. Sie hatten soeben eines ihrer Kinder zu Grabe
getragen, da verfasste er die Zeilen: „Geh aus mein Herz und suche Freud…“
Oder Dietrich Bonhoeffer, der im Kellergefängnis der Gestapo einem Brief an seine Verlobte
ein Gedicht beifügt, das mit den Zeilen beginnt: „Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar.“
Oder Etty Hillesum, auf die ich an dieser Stelle etwas ausführlicher eingehe: 1 Mit 29 Jahren
wurde die Niederländerin nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. In Briefen und
Tagebüchern hat sie von ihrem Kampf für die Menschlichkeit berichtet. Mehrmals hätte sie
untertauchen und sich retten können. Aber sie blieb. Im Durchgangslager Westerbork in den
von den deutschen Nationalsozialisten besetzten Niederlanden stand die Tochter einer
Russin und eines Niederländers anderen Jüdinnen und Juden bei. Mit eiserner Disziplin
schrieb sie ein Tagebuch. Es beginnt am 8. März 1941 und endet am 13. Oktober 1942 mit
den Worten „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden„.
In den Texten wird deutlich, wie diese Frau mit Herz, Leib und Seele gedacht und geglaubt
hat. Sie hatte nicht viel Lebenszeit. Sie suchte nach der Grundmelodie und die
Tiefenströmung des Lebens angesichts der Auslöschung ihres Volkes.
Daran, dass das Leben selbst im Schrecken Momente der Schönheit, vielleicht sogar des
Glücks bereithält, hielt Hillesum mit einer zuweilen verstörenden, trotzigen Gewissheit fest:
«Wir haben dieses Lager singend verlassen», notierte sie auf eine Postkarte, die sie am 7.
September 1943 aus dem Zug warf. Im Rucksack hatte sie ein russisches Wörterbuch,
Tolstoi und die Bibel. 2
„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit
brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leides an mir
vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um
die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu
braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen,
Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen.
Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir
dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf
das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir
mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja,
mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören
nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur
Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht
helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren
bis zum Letzten verteidigen müssen. (…) Ich werde in nächster Zukunft noch sehr viele
Gespräche mit dir führen …“ (Tagebucheintrag vom 12. Juli 1942)
Hillesums eigensinnige Komposition aus weltlicher Psychoanalyse, Gottesfrömmigkeit und
entschiedenem Handeln, aus tiefer Belesenheit und radikaler Autodidaktik am eigenen
Leibe, ohne institutionelles Geländer, hat tatsächlich eine „Grundmelodie“ erzeugt: Dieses
Leben ist auf unerhörte Weise in Gott lebendig gewesen. Die Urkraft, schrieb sie, bestehe
darin, „dass man, selbst wenn man jämmerlich umkommt, bis zum letzten Augenblick für sich
selbst weiß, dass das Leben sinnreich und schön ist, dass man alles in sich verwirklicht hat
und dass das Leben gut war so, wie es war“. 3
Mit diesen eindrucksvollen Worten wünsche Ihnen vielfältige und ermutigende Trost- und
Hoffnungsquellen!
Herzliche Grüße
Wolfgang Klimm
¹ Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943. Verlag C. H. Beck, München 2023. 989 S.
² www.reformiert.info/de/recherche/die-tagebuecher-und-briefe-von-etty-hillesum-sind-eine-entdeckung-und-liegen-endlich-auf-deutsch-vor-22032
³ www.zeit.de/2023/12/etty-hillesum-tagebuch-juedin-amsterdam-holocaust/seite-2
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