Eigentlich ist die Adventszeit vom Sound altbekannter Lieder bestimmt. Melodien, die wir gerne hören. Wir haben sie im Ohr, die hellen Lieder, mit leichter und auch großer Vorfreude. Lieder von einer schönen Zeit, die naht. Von jauchzenden Kindern, deren Augen staunend glänzen. Adventstage in Dur.
In die Unbeschwertheit der Adventslieder mischen sich in diesem Jahr wieder diese ganz anderen Töne. Regelrechte Dissonanzen und dunkle Klänge. Weniger Vorfreude auf das gemeinsame Feiern, sondern mehr Vorfurcht auf gefährliche Ansteckung. Weihnachtsfeiern und Weihnachtsmärkte sind bereits wieder abgesagt. Singen immer noch verboten. Auch in diesem Jahr fragen wir: Wie soll es denn jetzt überhaupt noch Weihnachten werden? Wie soll es weitergehen angesichts von so viel Ungewissheit? Angesichts einer Welt, die immer größere Wunden aufweist?
Wie klingt der Advent in so einer Zeit? Offensichtlich nicht ganz so glockenhell und voller Zuversicht. Eher wie die sehnsüchtigen Bitte aus dem alten Text: „O reiß doch den Himmel auf und komm zu uns herab!„.
Dieses alte Lied erinnert, fleht und fordert. Ein Lied, gesungen vom Chor derer, denen helle Lieder nicht mehr so leicht über die Lippen gehen. Es ist eher verwunderlich, dass die Israeliten damals überhaupt noch Lieder hatten: Sie hätten auch verstummen können, nach all dem, was hinter ihnen lag. Kein Friede, nirgendwo. Die Lahmen hinken weiterhin. Die Stummen bleiben stumm. Nichts wird heil. „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner herrlichen Wohnung!“, rufen die Israeliten. „Schau doch, wie es uns geht, Gott! Und dann komm, komm endlich. Du bist doch unser Gott!“ Echte Hilferufe.
Die Weltzuversicht ist uns auch in diesem Jahr 2021 abhanden gekommen. Das Weihnachtsgefühl wird voraussichtlich weniger wohlig, sondern eher bang. Wie kann es uns trotzdem gelingen, weder dem billigen Trost noch der Trostlosigkeit zu verfallen? In Zeiten der Verzweiflung?
Vielleicht hilft uns das alte Lied weiter. Aus einer ähnlich verzweifelten Zeit. Der Jesuit Friedrich Spee formulierte die bekannten Zeilen seines Adventslieds:
„O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf,
reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“
Das war vor bald 400 Jahren, im Dreißigjährigen Krieg. Es war die Zeit der Hexenverfolgung. Spee war der Beichtvater der Opfer. Er hat die Folter gesehen, den Hass des Mobs und den Wahn in den Augen der Richter. Er hat die Urteile gehört, Urteile „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Er wusste um die Unschuld der Opfer, aber er konnte kein Urteil verhindern. Er konnte nur trösten. Und Gott in seinem Lied anflehen: „Reiß auf! Reiß ab! Schlag aus! Ein bitterer Ruf nach Gerechtigkeit.“
Manchmal klingt er so, der Advent: hoffnungsmüde, fragend, klagend. Nicht der offene Himmel, sondern das Warten im Dunklen gibt die Tonart vor. Ein Warten, das sehr lang sein kann.
Friedrich Spee hält sehnsüchtig Ausschau nach dem Himmel, nach der „klaren Sonn“. Er schaut nach dem „schönen Stern“ und ruft dringlich nach dem „Trost der ganzen Welt“. So ein Mensch ist besonders empfindlich gegenüber aller Menschenverachtung und abstoßendem Machtgehabe!
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.“
Spee verfasste neben diesen Liedzeilen auch eine Kampfschrift gegen die Hexenprozesse. Außerdem prangerte er diese Ungerechtigkeit in seinen Vorlesungen an, die er als Professor in Paderborn hielt. Deshalb schickte man ihn ins Kriegsgebiet nach Trier, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.
Was lässt uns trotz alledem hoffen? Über Bethlehem wurde der Himmel schon einmal aufgerissen. Es ist nicht so, dass seitdem alles gut wäre. Das hat Friedrich Spee erlebt und das sehen wir Tag für Tag: Angst und Schmerz gibt es weiterhin. Leid, das keinen Sinn macht, damals nicht, heute nicht. Und trotzdem: Etwas ist anders geworden seit der Nacht, als es Advent wurde auf der Welt. Als Gott den Himmel aufgerissen hat, um in einem wehrlosen Kind auf die Erde zu kommen. Die Geschichte dieser Nacht geht nicht in einem „es war einmal“ auf. Diese hoffnungsvolle Melodie des Lebens ist seitdem nicht mehr verstummt. Auch wenn wir manchmal sehr leise werden müssen, um ihre hellen Klänge zu hören: Wenn jemand ein trauriges Kind in den Arm nimmt. Wenn einer dem Sterbenden die Hand hält. Wenn einer nicht auf sein Recht pocht, sondern mit sich reden lässt. Wenn jemand einem Vorübergehenden gute Worte mit auf den Weg gibt.
Manchmal ist der Advent nicht mehr als ein Ahnen, dass da etwas weiter klingt, etwas weiter strahlt seit dieser Nacht. Als der Himmel offen stand und Gott zerbrechlich in unserer Welt ankam.
Ich wünsche Ihnen trotz allem eine gesegnete Adventszeit und mittendrin einige ermutigenden Hoffnungsschimmer!
Herzlichst
Wolfgang Klimm
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Quellen:
1 https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/gesellschaft/paralympics-2021-in-tokio-der-kampf-um-sekunden-
e953362/
2 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/chris-nikic-interview-ironman-89532