Auf einen Espresso mit dem Seelsorger – August

Auf’n Espresso mit dem Seelsorger – August 2022

Martin Heidegger, der Philosoph, bezeichnete die Angst als eine Grundbefindlichkeit. Angstempfinden signalisiert Gefahr und schafft die Voraussetzung dafür, dass wir bereit sind zu reagieren, gegebenenfalls zu kämpfen oder zu rennen. 

Aktuell habe ich den Eindruck, dass unsere Angst extrem angestachelt wird. Anlässe gibt es zu Hauf, die Öl in unser Angstfeuer kippen. Allerdings haben wir von Natur aus unseren „Negativ Peilsender“ immer auf Empfang geschaltet. Wir sind mit einer sehr sensiblen Gefahren-Wahrnehmung ausgestattet. Das sorgt dafür, dass wir negative Nachrichten um den Faktor 4-10 (je nach Charakter) stärker gewichten, als Mitteilungen, in denen Lösungen oder Verbesserungen vorgestellt werden.

Die Nachrichtenportale nutzen diesen Effekt, weil sie mit diesen Befürchtungs-Erzählungen und Untergangs-Szenarien unsere Aufmerksamkeit ködern und fesseln.

Achten Sie einmal darauf, wie oft das Wort „DROHT“ in den Berichten benutzt wird. Immerzu droht alles, rund um die Uhr („heißer und schlimmer Corona Herbst“; „kalte Heizungen im Winter“; „Putins Atomschlag“; „Pleitegeier…“) Das Angstszenario der düsteren Zukunft wächst unaufhörlich an. Eine „Infodemie des Negativen“. Das Monster des Untergangs wächst in den Himmel. Die Zukunft ist eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg mehr gibt.

Der Ausweg ist sicher nicht, dass wir die rosarote Brille aufsetzen oder gar die Augen verschließen und so tun als ob alles gut sei.

Wenn etwas Schreckliches passiert, dann sollten wir nicht daran zweifeln, dass es wirklich schrecklich ist. Wir können aber auch fragen: Was passiert gerade sonst noch? Die Welt besteht nicht nur aus Gefahren und negativen Trends. Diese nehme ich von Natur aus sowieso verstärkt war. Also richte ich meinen „Wahrnehmungsscheinwerfer“ oder meine Lauscher auf Meldungen aus, die ermutigen. Weil sie ansonsten unter meinem Radar verschwinden und mir die Schreckensnachrichten ein verzerrtes Bild der Welt liefern.

Dieser Tunnelblick des Alltags wird an einem kleinen Experiment in einer U-Bahn-Haltestelle in Washington DC unter dem Titel „Stop and hear the music“ deutlich: Dort steht an einem kalten Januarmorgen 2007 ein Mann mit einer Violine. Er spielt Bach, auch Schubert. Während dieser Zeit kommen im morgendlichen Berufsverkehr Hunderte von Menschen an ihm vorbei. Es dauert ein paar Minuten, bis der erste Passant den Geiger bemerkt. Er verlangsamt seinen Schritt für ein paar Sekunden. Aber er unterbricht seinen Weg nicht. Kurz darauf wirft eine Frau den ersten Dollar in den Hut des Musikers, aber auch sie bleibt nicht stehen…. Dann nähert sich ein etwa dreijähriger Junge. Er möchte stehen bleiben, aber seine Mutter zieht ihn an ihrer Hand weiter. Das Kind schaut im Gehen zurück, will der Musik weiterzuhören. Die Mutter treibt es an. Wie dieser Junge verhalten sich einige Kinder, aber ausnahmslos drängen ihre Eltern sie zur Eile. Der Geiger spielt, ohne abzusetzen. Insgesamt sechs Menschen bleiben vor ihm stehen und hören ihm für kurze Zeit zu. Vielleicht 20 Vorübergehende werfen ihm eine Münze in den Hut. Nach einer knappen Dreiviertelstunde beendet der Geiger sein Konzert. Es wird still. Aber niemand nimmt davon Notiz, niemand applaudiert. 32 Dollar sind zusammengekommen.
Der Violinist war Joshua Bell, einer der besten Musiker der Welt. Er spielte unter anderem eines der schwierigsten Musikstücke, die jemals geschrieben wurden: die ‚Chaconne in d-Moll‘ von Johann Sebastian Bach. Die Geige, die er dafür verwendete, war 3,5 Millionen Dollar wert. Zwei Tage davor hatte Joshua Bell vor einem ausverkauften Haus in Boston das gleiche Konzert gegeben. Die Karten für dieses Ereignis kosteten durchschnittlich 100 Dollar.“

Was hat dies mit der zu Beginn angesprochenen Angst zu tun? Ängste lassen sich nicht wegdenken, wegsehnen, auch nicht verdrängen – sie kehren dann mit doppelter Wucht zurück (Fachausdruck: Rebound-Effekt). Was uns weiterhelfen kann berichtet ein von Angststörungen betroffener Patient. Ihm hat folgende Strategie geholfen, die uns helfen kann, die Scheuklappen unserer Wahrnehmung etwas zu weiten und neu zu justieren: „Drohen dunkle Gedanken überhandzunehmen, wende ich einen Trick an. Eine Übung. Sie heißt »Ich – jetzt – hier« und sieht vor, dass man nacheinander alle Sinnesorgane durchgeht und sich fragt: Was sehe ich jetzt in diesem Moment? Was höre ich? Was fühle, schmecke, rieche ich? Die meisten Ängste stehen in Verbindung zu etwas Unangenehmem aus der Vergangenheit oder richten sich auf etwas, das in Zukunft passieren könnte. Die Übung fängt die negativen Gedanken wie mit einem Lasso ein und holt einen in die Gegenwart zurück. Es ist verrückt, wie man sich die Zukunft und Vergangenheit vom Leib halten kann, wie schnell die Welt zusammenschnurrt für ein paar erholsame Augenblicke, wenn man sich auf seine Sinneseindrücke konzentriert.“

Ich wünsche Ihnen inmitten von schrecklichen Nachrichten und ausführlichen Krisenszenarios die Kraft, den Horizont zu weiten. Für das, was selten spektakulär daher kommt: das Gelingende. Das Gelungene. Die kleinen Schritte in die richtige Richtung.³

Herzliche Grüße!

Wolfgang Klimm

Pastor Wolfgang Klimm

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