Eine Schlagzeile beschäftigte bundesweit in den letzten Tagen die Nachrichtensender und versetzte viele in Angst und Schrecken: „Löwin in Berlin gesichtet“. Eine großangelegte Suchaktion mit Hubschrauber, Wärmebildkamera und 100 Polizeikräften sorgte für enorme Aufmerksamkeit und Anspannung.
Inzwischen hat sich herausgestellt: Die Löwin war eine Wildsau bzw. ein pflanzenfressendes Tier. Eine britische Zeitschrift, die Daily Mail, titelte: „Bedröppelt blasen die Deutschen die Jagd auf die Bestie von Berlin ab, nachdem sie zugegeben haben, dass es sich NICHT um eine Löwin handelt“.
Der Verlauf dieses Vorfalls hat mich an eine Geschichte von Michael Ende erinnert:
Kennen Sie Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer? Auf ihrer Abenteuer-Reise durch die Wüste Nirgendwo entdecken sie weit in der Ferne eine riesige, bedrohliche Gestalt. Tur Tur, der Riese biegt um die Ecke. Extrem furchterregend und angsteinflößend. Aber: Je näher die beiden diesem Riesen kommen, umso kleiner wird er. Am Ende erweist er sich als höflicher, teetrinkender englischer Gentleman. Der stellt sich ihnen fast schüchtern vor: „Ich bin ein Scheinriese, leide darunter, dass alle Leute Angst vor mir haben. Schön, dass ihr auf mich zugeht und mich kennenlernen wollt.“ Der anscheinend so bedrohliche Riese erweist sich als eigentlich „ganz manierlich“, wie Jim Knopf sagt.
Diese beiden Geschichten passen meiner Meinung nach ganz gut in unsere aktuelle Befindlichkeit. Dem ziemlich verbreiteten Untergangsgefühl und einer fehlenden Zukunftsperspektive: Der Planet ist kaputt. Die Menschheit verrottet. Die AfD bald bei 100 Prozent. Diese Skandalisierung, Katastrophisierung und Dramatisierung erzeugt vor allem eins: Eine angstbesetzte Aufmerksamkeit. Für alles, was sich gefährlich, skandalös und katastrophal anhört.
Zu alldem sitzt uns noch der Schrecken der Corona Pandemie tief in den Knochen: Viele von uns „hatten während der Pandemie das Gefühl, das eigene Leben nicht gestalten zu können. Das hat eine tiefsitzende Ohnmacht hinterlassen, die immer noch nachwirkt.“ Uns ist das „Kohärenzgefühl“ abhandengekommen: Nach dieser Theorie brauchen wir zur Lebensorientierung den Eindruck der Machbarkeit. Dass wir Herausforderungen und Probleme mit eigenen Ressourcen lösen können. Zum anderen brauchen wir den Eindruck der Verstehbarkeit. Dass uns strukturierte und geordnete Informationen über die aktuelle Lage zur Verfügung stehen. Zuletzt den Eindruck der Sinnhaftigkeit. Also die Erfahrung, dass das Leben Sinn ergibt und es sich lohnt, mit Blick auf die Zukunft gezielt etwas zu unternehmen.
Diese Perspektiven waren schon während der Corona-Jahre nicht erfüllt. Und wir realisieren so langsam, wie ungeheuer kräftezehrend die drei Corona-Jahre waren. Und welche verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen sie haben. Eine Art „posttraumatische Belastungsstörung“. Wir bräuchten jetzt eigentlich dringend Ruhe und eine längere Schonzeit, um uns zu regenieren. Aber die Katastrophenmeldungen reißen nicht ab und gönnen uns keine Verschnaufpause. 1
Die Folge: Wenn irgendetwas nicht klappt, geraten wir relativ schnell in einen Panik-Strudel. Dadurch schaukeln sich kleine Unwuchten, Fehler, die früher leicht kompensiert werden konnten, immer weiter auf. Wenn wir verunsichert sind, neigen wir dazu, unsere Reaktionen auf Störungen zu übertreiben.
Deshalb gewinnt die Steuerung unserer Aufmerksamkeit, wem oder was wir unser Gehör schenken, so eine enorme Bedeutung.
Deshalb wiederhole ich mich in diesem Espresso gerne: Es gibt sie noch, die guten Nachrichten:
Das Problem dabei: Viele Nachrichten sind „zu positiv“. Die liest keiner. Deshalb landen sie im Papierkorb. „Kein Empfang unter dieser Nummer!“ 2
Was kann uns weiterhelfen?
Tara Isabella Burton schreibt im ATLANTIC:
„Eine Möglichkeit, aus dem Panik Strudel herauszukommen ist, sich wieder auf „Das Berühren des Grases“ zu beziehen. Das heißt, sich wirklich mit der Wirklichkeit…zu beschäftigen. In kleineren Gruppen sich etwas vornehmen, was die Welt wirklich verändern kann, im Kleinen, aber Wahren. Und so unsere kollektiven Enttäuschungen in Zuversichten zu verwandeln.“
Soll heißen: Wenn wir im Großen und Ganzen nicht mehr weiterkommen, hilft es, im Kleinen das Große zu finden. Dort Verantwortung zu übernehmen, wo wir das Leben und unsere Beziehungen gestalten können.
Sie und ich – wir können heute in unserem Umfeld, an unserem Arbeitsplatz und Nachbarschaft einen Unterschied machen. Dort Verantwortung übernehmen, wo sich unser Leben abspielt.
Nur leider wird morgen die BILD Zeitung nicht darüber berichten, wie Sie einem anderen Menschen Trost gespendet, ihn aufgerichtet und ihm respektvoll und freundlich begegnet sind. Aber Sie haben dazu beigetragen, mehr Zuversicht in diese verunsicherte Welt zu tragen.
Riese oder Scheinriese? Die Welt wird wieder frisch, wenn wir lernen, sie mit neuen Augen zu sehen. Und gleichzeitig eine Blume auf den Misthaufen pflanzen. Eine nach der anderen.
Herzlichst,
Wolfgang Klimm
Unser Seelsorger steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern, den Angehörigen und Mitarbeitenden unabhängig von ihrer Konfession oder ihrer weltanschaulichen Prägung als Begleiter und Gesprächspartner zur Verfügung.
Nehmen Sie gerne Kontakt auf,
wenn Sie z. B.
Sie sind herzlich zu den regelmäßig stattfindenden Andachten eingeladen.
Kontakt und Terminvereinbarung
mit Pastor Wolfgang Klimm
Telefon: 040 55425-371
E-Mail: klimm@elim-diakonie.de