Auf einen Espresso mit dem Seelsorger – April

Auf’n Espresso mit dem Seelsorger – April 2022

Die zurückliegenden zwei Jahre der Corona Pandemie vergleicht Tobias Haberl mit einer gewaltigen Abenteuerreise: Heraus aus der trügerischen Sicherheit, hinein in die Wirklichkeit. Nun auch noch der barbarische Krieg mitten in Europa mit seinen schrecklichen Bildern und Schicksalen. Die Erkenntnis stellt sich ein, dass es so etwas wie Normalität nicht mehr geben wird. Was wir aus dieser Erfahrung machen könnten, schildert Haberl in dem Artikel „Das Ende der Illusion“ im Magazin der Süddeutschen.¹ Im Folgenden eine kurze Zusammenfassung seiner lesenswerten Zeilen.

Seine These: So etwas wie die „Normalität von früher“ gibt es nicht. Es sei denn, weil man Teile der Realität ausblendet. „Denn das Böse hört niemals auf, seine Kräfte zu sammeln, während wir auf einer Caféterrasse sitzen und Dinge nicht wahrhaben wollen oder Warnzeichen übersehen… Früher oder später passiert immer, was man nicht für möglich gehalten hat, und dann steht man da, reibt sich die Augen und spürt die eigene Verblendung, die Gnadenlosigkeit der Geschichte, die Zerbrechlichkeit des Glücks, aber auch die historische Möglichkeit, ein paar Weichen neu zu stellen.

Tatsache ist: Was wir zwei Corona-Jahre lang als Jahrhundertkatastrophe wahrgenommen haben, ist für Milliarden Menschen auf der Welt Alltag. Das Gefühl permanenter Bedrohung und Unfreiheit, die Atmosphäre ständiger Unsicherheit, die Unmöglichkeit längerfristig zu planen, die dauernde Gefahr, schwer zu erkranken oder zu sterben, Krankenhäuser, in denen es nicht genug oder keine Intensivbetten gibt, Kinder, die nicht in die Schule gehen können. Es sind diese Menschen, denen wir einen Besuch abgestattet haben, in deren Nöte und Hoffnungen wir für zwei Jahre geschlüpft sind, freilich meistens in einer domestizierten Touristen-Version, mit Highspeed-WLAN und Frühlingsrollen von Delivery Hero. Denn klar kann man sich darüber empören, dass Deutschland nur 27 000 Intensivbetten hat, man kann aber auch dankbar sein, angesichts von 5200 in Italien und 200 im Sudan… Klar kann man die „verlorene Generation“ ausrufen, wenn junge Menschen zwei Jahre lang nicht tanzen oder nebeneinander im Hörsaal sitzen können, aber wenn man es tut, sollte man sich auch die Mühe machen, nach einem passenden Adjektiv für Kinder zu suchen, die für unsere E-Autos auf Kobaltminen herumkrabbeln…

Die zwei Pandemiejahre waren fordernd, teilweise überfordernd, nicht mal einen Reiseführer hatten wir. Aber Reisen sind so, wenn man sie nicht mit einem „All-inclusive-Urlaub“ verwechselt: Sie irritieren, bringen durcheinander, manchmal erschüttern sie auch. Sie weiten den Blick und laden dazu ein, den eigenen Lebensstil zu überdenken. Sie steigern das Verständnis für und die Empathie mit Menschen, die unsere resigniertesten Momente als willkommene Abwechslung empfänden, denn eines ist klar: Die Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren in Holzbooten nach Europa aufbrachen, flohen vor widrigeren Verhältnissen als dem, was wir zuletzt durchgemacht haben.“ Diese Reisen „liefern den Beweis, dass es ein großes Glück ist, sein Leben im Europa des 21. Jahrhunderts verbringen zu dürfen, weil man schmerzlich spürt, dass jeder technische Fortschritt seinen Preis hat, dass wir gerade weil wir so wahnsinnig bequem und vernetzt vor uns hinleben, viele elementare Erfahrungen nicht mehr machen können. Anders ausgedrückt: Es ist die Erfahrung der Fremde, welche die Entfremdung in einem selbst aufheben kann. Reisen erlösen, vor allem von einem selbst, und machen einem immer, wirklich immer das Angebot, ein anderer, wacherer, besserer Mensch zu werden…“

Was wir auch noch durch diese schweren Zeiten lernen könnten: „Wenn wir uns, statt uns ständig darüber zu beschweren, dass die Politik uns nicht die geeigneten Rahmenbedingungen für unser persönliches Glück zur Verfügung stellt, dieses vielleicht nicht in der permanenten Steigerung, sondern in der Reduktion der Empörung, der Lautstärke und unserer Ansprüche suchen sollten, eher im Inneren als im Äußeren oder wie Voltaire mal geschrieben hat: Wer seine Wünsche zähmt, ist immer reich. Wenn wir, gerade weil im Moment die ganze Welt aus den Fugen ist, unseren Blick nicht nur auf unsere Ängste, sondern auch auf die Menschen richten, die von dieser Pandemie und diesem Krieg viel stärker betroffen sind, also unser Gewissen nicht zur Ruhe kommen lassen: Waren es vor der Pandemie 135 Millionen, die nicht wissen, woher die nächste Mahlzeit kommen soll, sind es zwei Jahre später 276 Millionen, der Krieg in der Ukraine wird viele Millionen hinzufügen, und allein in Afghanistan, ein Land, an das wir schon länger nicht mehr gedacht haben, sind genau in diesem Moment 13 Millionen Kinder vom Hunger bedroht…

Im Moment fühlt es sich an, als befänden wir uns auf dem Rückflug von unserer Abenteuerreise in die Ungewissheit: Die Corona Beschränkungen fallen, die Reisegruppe ist erschöpft, freut sich aber auf zu Hause. Manche Sitzplätze sind leer, was unsagbar traurig ist. Die Reise hat Verluste gefordert, aber auch für unvergessliche Momente der Menschlichkeit gesorgt, die es nur in Krisen geben kann, sie war anstrengend, aber auch lehrreich. Und gerade als wir die vertrauten Häuser unter uns sehen, die Äcker und Straßen mit den winzigen Autos, dürfen wir nicht landen, wird unser Flieger noch einmal umgeleitet, wegen dieses Krieges, den sich lange niemand vorstellen konnte. Seitdem kreisen wir im Luftraum und fragen uns, wann wir endlich nach Hause dürfen, zurück in die Normalität, nach der wir uns so sehnen, aber von der nicht klar ist, ob es sie überhaupt noch gibt.“

Ich wünsche uns allen bei der aktuellen ungewissen „Reiseverlängerung“, dass die Ostertage mit dazu beitragen, nicht nur etwas über die Wirklichkeit unseres Lebens zu lernen, sondern auch über den Gott, der diese Wirklichkeit mit uns teilt: In dem Gekreuzigten wird uns vor Augen geführt, dass Gott selbst einer von den Entrechteten, von den Verstoßenen und Ausgegrenzten ist. Er mag diese Menschen nicht nur – er gehört zu ihnen. Wir lernen an Karfreitag einen Gott kennen, der freiwillig den Kürzeren zieht. Er beendet die Illusion, als ob Gott ein Märchenonkel sei, der dafür zu sorgen hat, dass unser Leben störungs- und wartungsfrei bleibt. Der an Ostern aber auch zeigt, dass die Aussichtlosigkeit, der Schrecken ein Ende haben wird. 

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen gesegnete Ostertage!

Wolfgang Klimm

Pastor Wolfgang Klimm

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